WILD THOUGHT –                                            DER WILDE GEDANKE

Johannes Brus und Ottmar Hörl in der Biblioteca Nazionale Marciana in Venedig/ Von Marianne Hoffmann


Abb. links: Johannes Brus, „Girafffe“ aus seinem Mappenwerk „Portfolio. Wild Thought – Johannes Brus“.

Abb. rechts: Ottmar Hörl „Rotation“, aus seinem Mappenwerk „Portfolio. Wild Thought – Ottmar Hörl“


Die Marciana Biblioteca im Museo Correr, an der man auf dem Weg zum Markusplatz vorbeikommt, hat sich der modernen Kunst geöffnet. Inmitten der überaus prachtvollen Ausstattung des großen Museumsraumes stellte schon die in Mainz und Venedig lebende Künstlerin Lore Bert aus. Unter dem Titel „Art & Knowledge“ hat sie eine wegweisende Installation, gebildet aus den fünf Platonischen Körpern, umgeben von einem Meer aus lose gefalteten Papieren, inszeniert. 105.000 Besucher haben sich damals aufgemacht, um diesen Raum zu sehen. Unter dem Titel „Portofolio Wild Thought“ zeigen zur 58.Biennale Johannes Brus und Ottmar Hörl grafische Arbeiten, Skulpturen und Unikate  an eben jenem historischen Ort. Beide Künstler haben neue Arbeiten entworfen, die wir schon jetzt vorstellen möchten. 

Den Leitgedanken zu dieser Anfang Mai startenden Show stiftet der französische Ethnologe Claude Levi-Strauss (1908 -2009), der den Begriff „Wildes Denken“ prägte. Levi befasst sich ausführlich mit den Denkstrukturen primitiver, ja illiterater Kulturen. Illiteralität bezeichnet dem Wortsinne nach eine Lese- und Schreibschwäche. Dieses Phänomen hat sich bis ins 21. Jahrhundert gehalten, was man bei einer Welt voller Bilder nicht glauben mag, denn man möchte doch davon ausgehen, dass man über ein Computerprogramm zu lesen lernt bzw. mit dem Schreiben beginnt. Diesen funktionalen Analphabetismus, wie es die Pädadogen nennen, hat Levi-Strauss mit Hilfe des Sprachforschers Roman Jakobsen ab 1941 erforscht. Immer wieder verglich Claude Lévi-Strauss die Beziehung zwischen Linguistik und der Sprache mit dem Verhältnis zwischen Anthropologie und Kultur und betonte die Übertragbarkeit von linguistischen Denkformen auf die Anthropologie. 

Die Kulturen, so argumentierte er, seien wie die menschlichen Sprachen, nur ein Außenstehender könne ihre zugrunde liegen

en Regeln erkennen und deuten“, heißt es in einem Nachruf, den die Wochenzeitung „Die Zeit-online“ veröffentlichte. Das „wilde Denken“, das sich die beiden Künstler Brus und Hörl als Leitgedanken für ihre Ausstellung gewählt haben, spielt auf das Verlangen an, dass jeder Mensch nach einer für sich geltenden Ordnung sucht.  Lévi-Strauss fand für seine Denkansätze den Begriff „bricolage“, Bastelei. Das steht für die improvisierte Kombination einzelner sinnlicher Impressionen und vergangener Ereignisse, aus denen sich dann konkrete Bilder und Geschichten zusammenfügen. 

Dieses Zitat trifft sehr genau auf den Künstler Johannes Brus zu. Der heute 77jährige Brus, der im Ruhrgebiet lebt und arbeitet, hat sich schon seit Ende der 1950er Jahre mit der Relation zwischen Fotografie und Skulptur befasst. Oft finden sich in seinen Skulpturen Parallelen zu seinen Fotoarbeiten wieder, und selbst seine Fotografien entstehen in einem Prozess, den man als „bildhauerisch“ bezeichnen kann. Jedes Foto, das Brus für ausstellungswürdig hält, ist bearbeitet und erreicht durch die Vielfalt der Eingriffe eine Patina, die den Betrachter in die Irre führt. Denn Brus macht den Betrachter glauben, diese Fotos seien alt und leider vergilbt. Seine Motive: Tiere, exotische Tiere. Vorlage für diese Tierfotografien ist ein naturkundlicher Fotoband mit schwarz-weißen Fotografien, den Johannes Brus in den 1970er Jahren auf einem italienischen Flohmarkt gefunden hat. Der kolonialzeitliche Band zeigt exotische Tiere, die wahrscheinlich nicht in Freiheit fotografiert wurden, sondern schon im Zoo. Das Interessante dabei ist, dass diese Tiere völlig starr im Bild stehen, regungslos – „frozen moment“, und sie zeigen sich überwiegend von der Seite. Anna Brus schreibt im Katalog zur Venedig-Ausstellung: “Der (Foto)Band präsentiert die Ordnung der Tierwelt als objektive Wirklichkeit, aber schon die Vorlagen können den Prozess ihrer Entstehung nicht verdecken.“ 

Das Phänomen der seitlichen Draufsicht und die Regungslosigkeit erlauben es dem Betrachter, sich ganz auf die Tiere zu konzentrieren. Für Johannes Brus ist dieser Fotoband nicht nur Anregung für seine Tierfotografien, sondern auch für seine riesenhaften Tierskulpturen. Im Grunde kümmert sich der Künstler um den Erhalt seltener Tierrassen, indem er sie, allein durch ihre realistiche Darstellung und die imponierende Größe, dem Betrachter ins  Gedächtnis schiebt. Für die Biblioteca Marciana hat Brus ein Bilderrepertoire entworfen, das in einer großen Mappe zussammengefügt wird, ein Portfolio, das käuflich erworben werden kann. Während der Ausstellungszeit sind diese künstlerischen Fotografien, die einen Kaiman, einen Löwen, einen Kranich, einen Wolf, einen Dammhirsch, Elefanten oder Nasenbären zeigen, in den Vitrinen der Bibliothek ausgestellt, in denen normalerweise kostbarste Artefakte zu sehen sind. So bekommen die, mal als Positiv-, mal als Negativ-Abzug, seltsam entrückt wirkenden Fotografien den Schein der Kostbarkeit, die man, durch Glas beschirmt, betrachten kann. Die zum Teil auch farbig überarbeiteten Bilder, in denen bei genauer Betrachtung auch Landschaftsdarstellungen und scheinbare Pflanzenwelten zu  entdecken sind, sind bewacht. 

 


Links: Johannes Brus, „Hieronymus e Melencolia“ (Löwen-Skulptur und Polyeder auf Steinboden), gesamt: 262 x 352 x 334 cm.

rechts: Ottmar Hörl, „Black Stone“, 2008, Lego-Skulptur, 70 x 90 x 90 cm und 80 x 100 x 100 cm


Bewacht durch die Tierskulpturen wie Löwe, Elephant, Pferd und Nashorn, die im Raum verteilt ruhen oder stehen. Der Löwe stellt die Verbindung zu den gewaltigen Löwen auf dem Markusplatz her, und das Pferd verbindet sich mit den vergoldeten Bronzefiguren der Quadriga, die dort allerdings nur als Kopie steht. 

Der Löwe, schon immer ein Tier, das Königshäuser bewacht oder im Wappen und auf Fahnen gezeigt wird, steht hier in Venedig als Symbol für den Schutzheiligen der Stadt, den heiligen Markus, den Evangelisten. Außerdem auch als Symbol für die wehrhafte Seerepublik, die ihre Kriegs- und Handelsflotte bis in das 16. Jahrhundert in der Adria und dem östlichen Mittelmeer patroullieren ließ. Und all dies geschah im Namen eines Christentums, das sich keiner Fremdherrschaft unterwerfen wollte. So kam die „triumphierende Quadriga“ 1204 nach Venedig. Sie stammt aus einem unschönen Beutezug, der Konstantinopel vernichtete. In der Marciana Bibliothek hat man also die Möglichkeit, diese wilden Tiere ausgiebig zu betrachten, fraglich ist dabei allerdings, ob sich wohl eine Nähe zwischen Betrachter und Kunstwerk ergibt. Der Löwe, der, wie alle anderen Tiere auch, unter größten Kraftanstrengungen und hochentwickelter Technik in das autofreie Venedig gelangt, wird in dieser Ausstellung von einem unregelmäßigen Polyeder begleitet. Diese seltsam wirkende Zusammenstellung erinnert an Albrecht Dürers Stich „Melancholia I“. Dieser Stich von 1514 wird zu den drei Meisterstichen Dürers gezählt und hat schon damals aufgrund seiner unzähligen Symbole zu großen Diskussionen und Interpretationen geführt. Der im Bild sitzende engelsgleiche Mensch, hält einen Zirkel in der Hand und ist umgeben von vielerlei Werkzeug, vor ihm der Polyeder und eine Kugel.

Der Betrachter  stellt sich die Frage, welche Tätigkeit übt dieses Wesen aus. Viele Deuter diese Bildes sind sich in einem Punkt nahezu einig: es geht hier um die Verbindung von Kunst und Handwerk, die es ja realiter in der Kategorie Kunsthandwerk gibt. Anna Brus beschreibt im Katalogbeitrag zu Johannes Brus die Arbeitssituation im heimischen Fotolabor, das der Künstler tatsächlich als Ort der „artes“ bezeichnet. „Die Artes bezeichnen bis ins 21. Jahrhundert hinein die Wissenschaften genauso wie die Künste, Geschicklichkeiten und Kunstfertigkeiten, die ihnen zugrunde liegen und das Know-how der Experten ausmachen.“ Und sie fährt fort: „Das Zusammenspiel von fotografischer Vorlage, Licht und Dunkelheit, Projektor und Schwämmchen, Entwickler, Fixierer, farblichem Toner und Künstlerhand entzieht den Bildern ihre Eindeutigkeit und lässt etwas Neues Fremdes entstehen“.

Der Kontrast zum Brus‘schen Werk bildet der Meister des Multiples Ottmar Hörl mit vier Arbeitsgruppen.  Hörl ist jünger als Brus, auch er mit dem Titel Professor geadelt, er geht stramm auf die Siebzig zu und ist sicherlich der Künstler, der jedem Deutschen, egal aus welcher sozialen Schicht er stammt, geläufig ist. Allein beim Wort Gartenzwerg erscheint der Zwerg mit dem erhobenen Stinkefinger oder dem Hitlergruß vor dem geistigen Auge. Geht man noch weiter zurück, dann ist es die Seife im schwarzen oder weißen Kunststoff mit der Aufschrift „Unschuld“ . Deshalb ist der Ausstellungstitel „Wild Thought“ eigentlich für Hörl gemacht. 

Da ist der Satz, mit dem der Katalogtext zu Hörl von Luminita Sabau den perfekten Einstieg in die Kunstwelt des Ottmar Hörl schafft, der nie ein Künstler sein wollte, der intelektuelle Schichten erreicht, sondern jemand, der durch die Kunst die Welt verändern will. „Gewiss die Eigenschaften, die dem wilden Denken zugänglich sind, sind nicht die, die die Welt der Gelehrten auf sich ziehen. Man kann sich der physischen Welt von zwei entgegengesetzen Standpunkten nähern: von einem äußerst konkreten und einem äußerst abstrakten aus; entweder unter dem Aspekt der sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten oder unter dem der formalen Eigenschaften“. Hörl bedient beides. Für ihn schließt das eine das andere nicht aus, doch viele, die Hörl auf Beethoven, Marx oder die Zwerge reduzieren, werden in dieser Ausstellung neue Seiten des Multitalentes entdecken. Wie Brus hat sich Hörl für Venedig der Fotografie zugewandt. Dabei kann man schon davon ausgehen, dass er nicht durch den Wald, eine Landschaft oder ein Häusermeer gelaufen ist, bewaffnet mit einer Kamera, und drauf los geknipst hat. Auch das kann Konzept sein, ist aber für das durchdachte Kunstwerk des Konzeptkünstlers Hörl nicht vorstellbar. Hörl hat eine Kamera auf einer Bohrmaschne fixiert und sich dann auf den Weg gemacht, den Wald im Bild festzuhalten. Es ist Hörl schon lange ein Anliegen, eigene fotografische Verfahren zu entwickeln, die die zeitliche Dimension eines Raumes, eines Ortes, zu erfassen sucht. Nun also der klassische Waldspaziergang, bei dem die auf einer Bohrmaschine aufgebrachte Kamera zig Bilder schießt, während sich die Bohrmaschine langsam dreht. Dabei entstehen serielle Aufnahmen von Momenten, die dem menschlichen Auge nicht zugänglich sind. Er nennt diese neuen Serien „Rotation“ und “Landschaft für Sprinter.“ Die Auswahl, die Hörl dann treffen musste, ist die eigentliche künstlerische Konzeption der Ausstellung. Die Ruhe, die der Mensch bei einem Waldspaziergang sucht, die er aber auch in Bildern finden möchte, ist hier nicht gegeben. Hörl nimmt den Betrachter mit auf die Reise in die Rotation, nicht um ihn zu verwirren, eher um ihn für neue Aspekte zu sensibilisieren.  

Bei  dem zweiten Thema für Venedig mit dem Titel „Il Mare““ geht es um das intuitive Empfinden, das man dem Phänomen Meer entgegenbringt. Die in tiefem Schwarz-Grün dargestellte Wasserfläche mutet fremd an und gibt der Assoziation „Tiefe“ Inspirationsraum. In „Naturgemälde“ von 2009 präsentiert Hörl eine großformatige Textarbeit zu Alexander von Humboldt, die zu dessen 

150. Todestag entstanden ist. Er hat sich malerisch dem Naturverständnis des 150 Seiten starken Abschnittes aus dem fünfbändigen Werk „Kosmos“ angenähert. Er wollte keine Landschaft malen, sagt er, es sollte eine symbolische Darstellung dessen werden, wie Bilder in uns entstehen. Dem stellt Hörl das „Ensemble für Enthusiasten“ aus dem Jahre 2016 gegenüber. 100 gezüchtete Kakteen, die man unter der  Bezeichnung Schwiegermutterstuhl oder -sitz kennt, stehen als Ensemble zusammen und weisen auf ein schwieriges Kapitel Natur hin. Der Schwiegermuttersitz mit seinen langen Stacheln erinnert in seiner Form an orientalische Sitzkissen. Diese Sukkulente wächst allein, mag keine Kakteen in der Nachbarschaft, und die Blüten, die sie entwickelt, sind gelb und zeigen sich selten. Die Pflanze ist genügsam und benötigt keine aufwändige Pflege. Für Hörl ist sie der perfekte Botschafter für jemanden, der nicht auf Kommunikation eingestellt ist. Und in der Gegenüberstellung mit dem Humboldtschen Text verdeutlicht er, wie Natur zugerichtet wurde. 

 

Das  „wilde Denken“, so Levi-Strauss, trennt nicht den Augenblick der Beobachtung von dem der Interpretation, so wenig wie man die von einem Gesprächspartner ausgesendeten Zeichen zuerst aufnimmt, um sie dann zu verstehen sucht: Er spricht, und die sinnlich wahrnehmbare Sendung bringt die Bedeutung gleich mit.“ Besser kann man das, was in Venedig von Ottmar Hörl zu sehen sein wird, nicht deuten. Die Ausstellung in der Biblioteca Marciana ist offizielle Begleitveranstaltung der Biennale, konzipiert von Manfred Möller, Chef des Kunsthandel-Verlages,  in Zusammenarbeit mit den Künstlern. Es wird einen umfangreichen Katalog geben, sowie Mappenwerke der Künstler, die über den Verlag erworben werden können. 


Portfolio Wild Thought: 

Johannes Brus & Ottmar Hörl

Mit einem Gastbeitrag von 

Prof. Dr. Dierk Maass, Salenstein, Schweiz

12.5. bis 28.7.

Biblioteca Nazionale Marciana

Sale Monumentali

Piazza San Marco, 13/a

I-30124 Venezia

Mo-So 10-19 h (Ticketschalter 10-18 h)

www.marciana.venezia.sbn.it