Komplexe Zusammenhänge

Die Biblioteca Nazionale Marciana in Venedig zeigt die Ausstellung Portfolio – Genealogies mit Werken von Kevin Clarke, Jiny Lan und Bernd Reiter / Von Heiko Klaas & Nicole Büsing


Links: Bernd Reiter, „Sequenz I (schein)heilig“, aus der exkluiven Edition zur Ausstellung)

Rechts: Kevin Clarke, „Porträt Kurt Schwitters“, aus der exkluiven Edition zur Ausstellung


Seit ihrer ersten Ausgabe im Jahr 1895 gilt die Biennale von Venedig als der wichtigste internationale Treffpunkt für Künstler, Sammler, Galeristen, Kritiker und Museumsleute aus aller Welt. Während der Eröffnungstage für geladene Gäste gleicht die Großausstellung einem  Familientreffen der Kunstszene.

Nicht unterschätzen sollte man aber auch den großen Zuspruch seitens des breiten Publikums. 615.000 „normale“ Besucher strömten beispielsweise 2017 auf die Weltkunstschau. In diesem Jahr ist die Biennale besonders nah am aktuellen Geschehen. Kurator Ralph Rugoff hat ausschließlich lebende Künstler in seine Hauptausstellung eingeladen, die zeitgleich im Arsenale und im Zentralen Pavillon auf dem Giardini-Gelände stattfindet. Der aus New York stammende Amerikaner hat in seiner Ausstellung unter dem Titel „May You Live In Interesting Times“ rund 80 Positionen versammelt. Hinzu kommen zahlreiche über die Stadt verteilte Nationen-Pavillons, die venezianischen Museen und Stiftungen, aber auch andere Kulturinstitutionen. Viel zu entdecken also. Die „New York Times“ etwa empfiehlt ihren Lesern, gleich eine Woche in der Lagunenstadt vor Anker zu gehen, um alles zu sehen.

Ein ganz besonderer Ort in Venedig ist die altehrwürdige Biblioteca Nazionale Marciana gegenüber dem Dogenpalast. Es handelt sich um eine der wohl schönsten Bibliotheken der Welt. Insbesondere der große Saal, die Bibliothek Sansovinos, beeindruckt mit seinen imposanten Deckengemälden aus dem 16. Jahrhundert, die von in Venedig wirkenden Künstlern wie Tizian, Tintoretto und Veronese ausgeführt wurden. Die Einladung, mit den Allegorien-Darstellungen auf den Deckengemälden aus der Renaissance in einen Dialog zu treten, stellt für jeden Künstler eine besondere Ehre dar.  Warum also nicht gleich hier mit dem Kunstmarathon beginnen? Die prachtvollen Säle bilden zur Zeit den geeigneten Rahmen für die Ausstellung „PORTFOLIO – GENEALOGIES“. Es handelt sich um das dritte und letzte Kapitel des kleinen, aber feinen Ausstellungszyklus‘ PORTFOLIO,  der in der Biblioteca Nazionale Marciana parallel zur Biennale Gruppenausstellungen in Zusammenarbeit mit dem renommierten deutschen Kunstbuchverlag Edition Minerva präsentiert. Alle drei Ausstellungen wurden von Manfred Möller kuratiert.  

Die PORTFOLIO-Ausstellungen zeichnen sich dadurch aus, dass die beteiligten Künstler neben ausgewählten, für ihr Werk typischen Exponaten auch exklusive, großformatige Mappenwerke mit eigens für den Anlass entstandenen Künstlereditionen präsentieren. Diese haben teilweise Unikat-Charakter. Alle Portfolios erscheinen in einer Auflage von 30 Exemplaren und können selbstverständlich auch erworben werden.

Unter dem Titel „GENEALOGIES“ ist jetzt also eine Ausstellung zu besichtigen, die drei überwiegend in Deutschland lebende Künstler unter einer gemeinsamen Thematik zusammenführt. In der Gruppenschau werden grafische Arbeiten, Malereien, Fotoarbeiten sowie eine Installation der drei Künstler Kevin Clarke (*1953 in New York, Vereinigte Staaten), Jiny Lan (*1970 in Xiuyan, Volksrepublik China) und Bernd Reiter (*1948 in Köln, Deutschland) präsentiert. Zu sehen sind also Repräsentanten dreier unterschiedlicher Kontinente und kultureller Erfahrungswelten, deren Lebensmittelpunkt sich heute ganz oder überwiegend in Deutschland befindet. Der Titel der Schau „GENEALOGIES“ ist bewusst gewählt, gehen doch alle drei Künstler auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit diesem ambivalenten Begriffsfeld um.

Im engeren Sinne bezeichnet die Genealogie die Ahnenforschung und die Anfertigung von Stammbäumen. Untersucht man den Begriff etymologisch, so lässt er sich mit „Lehre“ (griechisch: lógos) und „Abstammung“ (griechisch: geneá) übersetzen. Eine naturwissenschaftliche Lesart ist da natürlich naheliegend. So gesehen lassen sich die „DNA Portraits“ von Kevin Clarke, in welchen der Fotokünstler den aus Buchstabenfolgen bestehenden genetischen Code lebender und historischer Persönlichkeiten mit metaphorisch aufgeladenen Fotografien kombiniert, ganz eindeutig als genealogisch verorten. Enthält doch unser Erbgut wichtige genetische Informationen, die wir mit unseren unmittelbaren Vorfahren teilen. Kevin Clarke entwickelte bereits Mitte der 1980er Jahre seine sogenannten „Chromo-Portraits“. Das waren Gemälde, auf welchen Chromosomen dargestellt waren. Mit der Hilfe des Nobelpreisträgers James D. Watson und einem Biotechnik-Unternehmen gelang es ihm dann schließlich 1988, erstmals eine individualisierte DNA-Sequenz zu erhalten. Beginnend mit einem Selbstporträt, schuf er bis heute weit über 100 „DNA-Portraits“.

Auch Jiny Lans in Mischtechnik auf Leinwand ausgeführte Malerei lässt auf faszinierende Art und Weise Genealogisches erkennen, deutet man den Begriff im Sinne einer Entwicklungsgeschichte oder Abfolge von Erscheinungen, zu denen selbstverständlich auch Kunstwerke zählen. Einerseits setzt sie sich in ihren kritisch aufgeladenen Bildern von männlichen Malerstars wie Jörg Immendorff, Gerhard Richter oder Georg Baselitz kunsthistorisch mit dem Begriff auseinander. Andererseits finden sich in ihren nacheinander entstehenden Werken auch immer wieder Zitate aus älteren eigenen Arbeiten wieder. Gewissermaßen kleine DNA-Schnipsel also, die sich subtil in das Gesamtwerk einschreiben und es so in einer Art Stammbaum vereinen. Dieser ist für Jiny Lan eine Vergewisserung ihrer eigenen Existenz. Denn nach der chinesischen Tradition darf die Frau nicht in Familienstammbäumen auftauchen. Vor diesem Hintergrund muss auch Jiny Lans Rolle als eine der wichtigsten feministischen Künstlerinnen in China betrachtet werden. Immer wieder macht sie durch provokante Performances, Aktionen und Videoaufnahmen auf sich und die Rolle der allzu oft an den Rand gedrängten Frauen und Künstlerinnen in China aufmerksam.


 

Links: Jiny Lan, „Imperatot LV“, aus der exkluiven Edition zur Ausstellung

Rechts: Bernd Reiter, „Sequenz VI (schein)heilig“, aus der exkluiven Edition zur Ausstellung


 

Der dritte Künstler der Ausstellung ist der Kölner Maler, Bildhauer und Installationskünstler Bernd Reiter. Seine  monumentale Installation „(schein)heilig“ besteht aus sieben teils vertikal aufgestellten, bis zur Decke ragenden, historischen Kirchenbänken und 40 in die Bänke eingearbeiteten Flachbildschirmen, auf denen Szenen, Berichte und Bilder aus der Kirchengeschichte laufen. Dazu werden Begriffe wie „Beichtgelegenheit“, „Verantwortung“, „Missbrauch“ oder „Ethik“ eingeblendet. Wie schon im Titel angedeutet, beschäftigt sich Bernd Reiter gedankengeschichtlich mit einer Genealogie der Moral, indem er am drastischen Beispiel des Kindesmissbrauchs innerhalb der Katholischen Kirche Kontinuitäten und Brüche der Vertuschung, aber auch der Aufarbeitung aufzeigt. Bernd Reiter arbeitet in seinen aufwendigen Großinstallationen gesellschaftskritisch. Indem er die Kirche als scheinheilig entlarvt, nimmt er selbst als Künstler eine mitfühlende, anprangernde, mahnende und institutionskritische Position ein. Allen drei Künstlern der Ausstellung „PORTFOLIO – GENEALOGIES“ gemein ist also das Reflektieren über die Komplexität sequenzieller Gesamtzusammenhänge.

Wie aber kommt der Ausstellungstitel zustande? Schon im 19. Jahrhundert hat Friedrich Nietzsche (1844-1900) die ursprünglich exklusiv in der Ahnenforschung gebräuchliche Verwendung des Begriffs Genealogie erstmals auch für die Philosophie reklamiert. Seit dem Erscheinen seines Werks „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“ im Jahre 1887 kann der Begriff – in philosophischer Lesart – mit der damals neu aufkommenden und stärker ins Bewusstsein tretenden Einsicht in die Geschichtlichkeit aller Phänomene in Verbindung gebracht werden. Die Beurteilung oder auch die Kritik des Heutigen, so erkannte Nietzsche, ist ohne ein Wissen des Gestern nicht möglich.

Ein zweiter wichtiger Denker, der sich unter Bezugnahme auf Nietzsche rund 90 Jahre später intensiv mit dem Begriff Genealogie auseinandergesetzt hat, ist der französische Vertreter des Poststrukturalismus, Michel Foucault (1926-1984). In Auseinandersetzung mit Nietzsche entwickelte auch er eine Genealogie der Moral, die aber stärker die Infragestellung der bestehenden Verhältnisse mitdenkt. Foucault bezieht sich insbesondere auf die Machtsysteme der Moderne, zu denen er das Erziehungssystem, den Strafvollzug, die Sexualität, aber auch Institutionen wie das Militär oder die Kirche zählt. Wollte man die Arbeiten von Bernd Reiter, aber auch der beiden anderen Künstler in einen philosophisch-diskursiven Zusammenhang stellen, so bieten daher auch die Werke Foucaults eine perfekte Folie für deren Verständnis.

Besonders charmant am Konzept des PORTFOLIO-Zyklus‘

in der Biblioteca Nazionale Marciana ist zudem die Tatsache, dass das Prinzip des Portfolios (aus lateinisch 

portare = tragen und folium = Blatt) an eine auch in der Renaissance schon weit verbreitete Praxis unter Künstlern anknüpft. Indem sie ein Portfolio mit Arbeitsproben mit sich führten, konnten sie potenziellen Käufern und Auftraggebern den Stil und die Qualität ihrer Arbeitstechniken lebhaft vor Augen führen. Für ein derartiges Unternehmen eignen sich die prachtvollen Säle der Biblioteca Nazionale Marciana auch heute noch aufs Vortrefflichste. 


PORTFOLIO – GENEALOGIES

7.9. bis 4.11.

Biblioteca Nazionale Marciana

Sale Monumentali

Piazzetta San Marco, 13/a

I-30124 Venezia

Mo-So 10-19 h (Ticketschalter 10-18 h) 

1.11.-31.3.: 10-17 h (Ticketschalter 10-16 h).

www.marciana.venezia.sbn.it