Objekt-Kunst gegen das Vergessen von Gewalt

Doris Salcedo in der Lübecker Kunsthalle St. Annen/ Von Ulla Fölsing


Links: Doris Salcedo, „A Flor de Piel “, 2011-2012, Rosenblätter und Faden (© the artist. Courtesy White Cube)

Rechts: Doris Salcedo, „Tabula Rasa I“, 2018, Holz (© the artist. Courtesy White Cube)


Objekte erinnern an das Leben eines Menschen. Eine Person hinterlässt Spuren durch die Kleider, die Möbel, die sie benutzt, die Tische und Stühle, die sie erwarten. Wenn jemand dann auf brutale Art und Weise gewaltsam verschwindet, dann schreien diese Gegenstände förmlich die Abwesenheit heraus“, sagt Doris Salcedo (*1958 Bogotá). Sie gibt dem menschlichen Elend hinter den verlassenen Alltagsobjekten seit dreißig Jahren eine Stimme: In ihren spröden, aber damit umso berührenderen Skulpturen und raumgreifenden Installationen thematisiert die seit langem weltweit wahrgenommene und gefeierte Künstlerin ohne Scheu Gewalt jeder Art. Vor allem solche gegen Frauen, mit der sie der blutige Bürgerkrieg in ihrer Heimat seit vielen Jahrzehnten konfrontiert. Auch aus anderen Regionen der Welt nimmt sie Leid, Verzweiflung und Traumata der Opfer von Entführung, Folter, Mord und Vergewaltigung zum Anlass, um mit ihrer Kunst gegen das Vergessen von derartigen Verbrechen anzugehen. 

Für ihr herausragendes Œuvre wurde die Kolumbianerin am 7. September in Lübeck mit dem erstmals vergebenen „Possehl-Preis für internationale Kunst“ geehrt. Der mit 25.000 Euro dotierte Preis kommt von der Possehl-Stiftung, benannt nach dem 1919 verstorbenen Lübecker Unternehmer, Senator und Mäzen Emil Possehl, der für die Entwicklung des Gemeinwesens in der Hansestadt die Stiftung testamentarisch zum Universalerben seiner ertragreichen Firma machte. In dem 2003 aus Possehl-Geld finanzierten Neubau der Kunsthalle St. Annen für Nachkriegsmoderne und zeitgenössische Kunst findet jetzt als Bestandteil des Possehl-Kunstpreises die erste Salcedo-Ausstellung in Deutschland statt. 

In ihrer Laudatio betonten die Juroren, dass Doris Salcedo in ihrer Kunst poetische Bilder für heikle Probleme wie Rassismus, Ausgrenzung und systematische Ungleichbehandlung finde. Mit großer Sensibilität thematisiere sie die tragischen Folgen von Gewalt als Konsequenz politischer und ökonomischer Herrschaftsansprüche aus der Sicht der 

Opfer und ihrer Angehörigen. Das verleihe ihren Arbeiten „höchste Relevanz für unsere Gegenwart“. 

Tatsächlich verschaffen Salcedos bei aller Monumentalität oft sehr fragil und verletzlich wirkende Objekte jenen Menschen spürbare Präsenz, die Brutalität und Ungerechtigkeit erfahren mussten und oftmals sogar darin umgekommen sind. Das stilistische Repertoire der Künstlerin scheint dabei unerschöpflich. So stapelte sie 2003 zur 8. Istanbuler Biennale 1.500 Stühle in die enge Mauerlücke eines Stadtviertels, das einst von der griechischen und jüdischen Minderheit bewohnt wurde. Den Umgang Europas mit Migranten nahm sie 2007 in der Londoner Tate Modern mit „Shibboleth“ in den Blick, wo ein tiefer Riss im Betonboden die Abschottung der „ersten Welt“ visualisierte. In ihrer Heimatstadt Bogotá ließ sie von FARC-Rebellen abgegebene Waffen einschmelzen und zu Bodenplatten für eine Gedenkstätte über gewalttätige Konflikte verarbeiten.

Salcedos neueste Werkreihe “Tabula rasa I-IV“ im Erdgeschoss der Kunsthalle St. Annen gibt der Lübecker Ausstellung den Namen. Was sich mit „leer wie ein unbeschriebenes Blatt“ übersetzen lässt, meint eigentlich das Gegenteil. Denn die Schau beschäftigt sich vor allem mit sexueller Gewalt und der Vielzahl von Vergewaltigungen, die Frauen im kolumbianischen Bürgerkrieg erlitten haben, und solche Schandtaten lassen sich nicht tilgen: „Eine Vergewaltigung ist wie ein Mord. Der Mensch wird zerstört, aber der Körper lebt weiter,“ sagt Doris Salcedo.

Trotz allem wolle sie mit ihrem Werk zeigen, „dass die Zerstörung und die tragische Erinnerung daran zwar allgegenwärtig sind, aber auch der Versuch, sich zu arrangieren, zu heilen, zu überleben.“ 

Für die titelgebende Installation verwandelte Doris Salcedo fünf rechteckige Tische in eine Projektionsfläche von Verhören, Folter und Vergewaltigungen und zertrümmerte sie in kleinste Stücke, um sie danach neu zusammenzuleimen. Die Spuren der Zerstörung allerdings blieben sichtbar. Sie führen unmissverständlich vor Augen, dass Gewalttaten niemals ungeschehen zu machen sind. Auch für „Plegaria Muda“ (2008-2010) nahm die Künstlerin Holztische als Werkstoff. Statt sie zu demolieren, lagerte sie mehrere sargähnlich wie zu einem Begräbnis übereinander, ließ aber zugleich feine Grashalme und damit eine Form von Hoffnung aus ihren Ritzen wachsen. Noch zarter und poetischer verfuhr sie bei „A Flor de Piel“ (2011-12), einem 5 x 4,5 m großen Teppich aus Tausenden konservierten Rosenblättern, filigran miteinander vernäht. Er erinnert an das grausame Schicksal einer gekidnappten und zu Tode gefolterten kolumbianischen Krankenschwester. 

Buchstäblich unter die Haut gehen auch Salcedos Stoffgebilde aus zarter Rohseide, durchstochen von 12.000 silbrig schimmernden Nadeln: Die Werkgruppe „Disremembered“ (2014-2015) erzählt vom missachteten Schmerz von Müttern, deren jugendliche Söhne als Gangmitglieder gewaltsam zu Tode kamen. Die Künstlerin hat mit vielen dieser Frauen gesprochen, ebenso mit unzähligen kolumbianischen Vergewaltigungsopfern. Wo sie kann, bindet sie die Leidtragenden von Gewalt in ihre Arbeiten ein. Denn sie versteht sich nicht als Einzelkämpferin. sondern als Teil eines Ensembles, das gemeinsam künstlerische Projekte realisiert, die sie selbst nur leitet. Ihre Kunst – „das bin nicht ich,“ sagt sie „das ist kollektive Arbeit.“


Doris Salcedo – Tabula Rasa

bis 3.11.

Die Lücbecker Museen

Kunsthalle St. Annen

St. Annen-Straße 15

23552 Lübeck

Di-So 10-17 h

https://kunsthalle-st-annen.de